XFEL: Quantenlandschaft hohler Atome kartographiert
Quantenlandschaft hohler Atome kartographiert
Forschende haben exotische Quantenzustände von schweren Atomen identifiziert, denen bis zu sechs Elektronen in ihren inneren, kernnahen Elektronenschalen fehlen. Ermöglicht wurde der Durchbruch durch die einzigartige Möglichkeit am European XFEL, die Röntgenenergie über einen weiten Bereich zu variieren, sowie die Anwendung eines leistungsstarken Computerprogramms zur Vorhersage des röntgengetriebenen Quantenverhaltens. Die Ergebnisse versprechen neue Einblicke in extreme Licht-Materie-Wechselwirkungen, die dazu beitragen könnten, die Abbildung von Molekülen zu verbessern oder ungeklärte Beobachtungen in der Astrophysik zu enträtseln.
Wird ein Atom von einem Lichtteilchen – einem Photon – mit ausreichend Energie getroffen, kann es ionisiert werden, d. h. ein Elektron wird aus dem Atom herausgeschlagen und hinterlässt ein positiv geladenes Ion mit einem Loch in seiner Elektronenhülle. Die vom European XFEL erzeugten Röntgenpulse sind so intensiv – sie enthalten bis zu 1013 Photonen pro Puls – und haben eine so kurze Dauer – von einigen zehn Femtosekunden –, dass die von ihnen getroffenen Atome oder Moleküle mehr als ein Photon gleichzeitig absorbieren können, was als „Multiphotonen-Wechselwirkung“ bezeichnet wird. Auf diese Weise sollte es sogar möglich sein, Atome mit mehreren Löchern in ihren Kernelektronenschalen zu erzeugen. In diesen innersten Schichten der Elektronenhülle sind die Elektronen sehr eng an den Atomkern gebunden und nehmen im Gegensatz zu den weiter außen liegenden Valenzelektronen nicht an chemischen Bindungen teil. Da Löcher in einer inneren Schalen sehr schnell wieder gefüllt werden, ist es daher äußerst schwierig und bedarf extremer Bedingungen, um mehrere Kernelektronen gleichzeitig herauszulösen.
Diese extremen Wechselwirkungen von Licht mit Materie auf atomarer Ebene zu verstehen, ermöglicht es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, grundlegende Erkenntnisse über die Struktur und Dynamik der Materie zu gewinnen. Es kann zum Beispiel dazu beitragen, neue Experimentiertechniken an Freie-Elektronen-Röntgenlasern weiterzuentwickeln, die es erlauben, einzelne biologische Moleküle abzubilden oder Bewegungen von Atomen bei chemischen Reaktionen zu beobachten und zu kontrollieren.
In einer gemeinsamen theoretischen und experimentellen Studie an der SQS-Experimentierstation des European XFEL hat ein Forschungsteam nun erstmals die Abhängigkeit der Mehrphotonen-Wechselwirkungen von der Energie der Röntgenphotonen untersucht. Mithilfe von resonanter Ionenspektroskopie kartografierte das Team die kurzlebigen elektronischen Strukturen, die während der komplexen Aufladungsprozesse entstehen, die durch die Beleuchtung isolierter schwerer Atome mit den intensiven Röntgenpulsen ausgelöst werden.
„Dank seiner speziellen Magnetstrukturen zur Erzeugung der Röntgenstrahlung, die extrem präzise justierbar sind, konnten wir am European XFEL kontinuierliche Scans der Photonenenergie durchführen und dabei einen sehr hohen und stabilen Photonenfluss an der Probe aufrechterhalten“, erklärt Rebecca Boll von European XFEL, die Leiterin des Experiments. „Dadurch war es erstmals möglich, die Abhängigkeit der Multiphotonen-Absorption von Röntgenstrahlung von der Photonenenergie über einen breiten Energiebereich zu untersuchen.“
Die gemessenen Resonanzspektren enthielten eine Vielzahl von Quantenstrukturen in einer von Photonenenergie und Ladungszustand gebildeten „Landschaft“ (Abbildung 1). Mithilfe neuester theoretischer Berechnungen konnten diese Strukturen elektronischen Übergängen in entsprechende Ionenzustände zugeordnet werden. „Die Ladungszustände zeigen, wie viele Elektronen die Atome nach der Absorption zahlreicher Röntgenphotonen verloren haben“, erläutert Sang-Kil Son von DESY, der den theoretischen Teil der Arbeit leitete. „Indem wir die Vorhersagen aus unseren Berechnungen mit den experimentellen Daten vergleichen, gewinnen wir einen Einblick in die Natur der erzeugten Quantenzustände.“
Wie die Forschenden herausfanden, wurden die Spektren bei bestimmten Photonenenergien und Ladungszuständen von stark ausgehöhlten Atomen mit bis zu sechs gleichzeitigen Löchern in ihren innersten Elektronenschalen bestimmt (Abbildung 2). „Solche Zustände mit mehreren Löchern in den Kernelektronenschalen wurden unseres Wissens bisher nur theoretisch diskutiert und nie experimentell nachgewiesen“, ergänzt Rebecca Boll.
Das Forscherteam (nicht komplett) im Kontrollraum der Experimentierstation
Die Studie zeigt, dass hoch geladene Ionen in exotischen Quantenzuständen mit intensiven Röntgenpulsen erzeugt und gleichzeitig untersucht werden können, wodurch sich neue Perspektiven für röntgenbasierte Techniken eröffnen. Die in der Studie entdeckten ungewöhnlichen Atomspezies könnten beispielsweise auch durch Kollisionen im Weltraum entstehen, so dass sie womöglich nicht identifizierte Röntgenemissionslinien in der Astrophysik erklären könnten.
Das Experiment wurde von einem Team von European XFEL und dem Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) bei DESY geleitet, an dem auch Forschende der Universität Hamburg, von DESY und der Kansas State University beteiligt waren. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Referenz:
“Multiple-core-hole resonance spectroscopy with ultraintense X-ray pulses”, Aljoscha Rörig et al., Nat. Commun. 14, 5738 (2023), DOI:10.1038/s41467-023-41505-1
Wissenschaftliche Ansprechpartner:innen:
Dr. Rebecca Boll
E-Mail: rebecca.boll@xfel.eu
Dr. Sang-Kil Son
E-Mail: sangkil.son@cfel.de
Kontakt Medien:
Dr. Bernd Ebeling
Tel.: +49-40-8998-6921
E-Mail: bernd.ebeling@xfel.eu